Selbstversorgung: Von der Sehnsucht zu einem neuen Selbst

 

Selbstversorgung bedeutet gleichermaßen Arbeit wie Freude, genauso wie weitgehende Unabhängigkeit von den unüberschaubaren Strukturen der globalen Lebensmittelversorgung. Selbstversorgung bedeutet auch: eine neue und bewusste „Abhängigkeit“ von Beziehungen zu anderen Menschen. Wer sich von den globalen Strukturen der Lebensmittelversorgung schrittweise unabhängiger machen will, muss vieles gezielt aufbauen: Das gilt gleichermaßen für die Bodenfruchtbarkeit im Garten wie für den Aufbau von neuen Netzwerken der Selbstversorgung.

Für viele ist Selbstversorgung ein Gegenentwurf zu einem Leben geworden, das sich für die meisten von uns den Großteil der Zeit in geschlossenen Räumen und digitalen Arbeitswelten und im urbanen Umfeld abspielt. Hier kommt das Essen mehr denn je aus anonymen Kontexten, trotz unzähliger Labels und aufwendiger Etikettierung sind weder die Produktionsbedingungen noch die Herkunft der Lebensmittel nachvollziehbar, geschweige denn unmittelbar erfahrbar. So wird Selbstversorgung, in dem zumindest ein Teil der Lebensmittelndirekt angebaut und geerntet werden kann für viele zum Symbol eines Gegenentwurfs zu einem durchregulierten, getakteten und allzuoft abgehetzten Leben.

Selbstversorgung lernen

Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass man ja nur einfach ein paar Pflanzen in die Erde stecken müsse und dann würden sie schon wachsen, ist das ertragreiche (!) Gärtnern – und damit die tatsächliche Selbstversorgung – nicht nur mit Aufwand, sondern auch mit Wissen und Können verbunden und braucht entsprechende soziale Netzwerke. Es ist ein Unterschied, ob man im Garten einige Kartoffeln erntet, oder ob man diese so anbauen – und auch lagern – kann, dass man sich verlässlich damit übers Jahr versorgen kann. So erzählt etwas Kaspanaze Simma, Biobauer in Andelsbuch in Vorarlberg, dass er und seine Frau gute 10 Jahre gebraucht haben, bis sie den Anbau der Kartoffeln so im Griff hatten, dass sie wirklich jedes Jahr von einem Ertrag ausgehen konnten, der ihren eigenen Bedarf deckt. Um Kartoffeln Jahr für Jahr und kalkulierbar erolgreich zu ernten braucht es einiges an Erfahrung: Welche Sorten wachsen gut bei mir? Wo bekommt ich verlässlich jedes Jahr gutes Pflanzgut her? Wieviel Dünger brauchen sie? Was tun gegen welchen den Erdäpfelkäfer? Und was gegen die Krautfäule? Wann und wieviel muss ich bewässern, wenn es nicht regnet? Und wenn all das erfolgreich beantworte und die Knollen geerntet sind: Wo und wie lagere ich die Ernte? Die Fragen scheinen zu Beginn nicht enden wollend.

Und trotzdem: Gerade mit frischem Gemüse, Kräutern und Obst kann „relativ“ einfach eigene Netzwerke und eine selbstbestimmte Versorgung aufbauen und einen Teil oder möglichst viel selber anbauen und handfeste und verlässliche Alternativen zur anonymen Versorgung mit Lebensmitteln aus dem Supermarkt herstellen.

„Selbstversorgung heißt nicht unabhängig zu sein. Selbstversorgung heißt neue Beziehungen bewusst gestalten: Zum Boden, zu den Pflanzen, zu den Tieren und nicht zuletzt: Zu Menschen, von denen wir lernen und mit denen wir in Austausch stehen“.
Andrea Heistinger

Selbstversorgung: Das heißt arbeiten, das heißt ernten. Das heißt unabhängig sein von einer Versorgung von einem anonymen Markt, aber abhängig zu sein vom Zugang zu einem Stück Boden – im Idealfall zu einem Stück guten Boden – abhängig zu sein von den eigenen Fähigkeiten, vom Zugang zu Saatgut, vom Wetter und von Umwelteinflüssen und abhängig zu sein von Netzwerken, die die Selbstversorgung ermöglichen. Eine Selbstversorgung, die nur aus einem individuellem Selbst heraus Bestand haben kann, gibt es nicht.

“Alle Menschen, die zu uns kommen, um hier zu lernen, haben ein Universitätsstudium abgeschlossen oder zumindest Matura (meist auch dann ein paar Studienjahre schon hinter sich). Diese jungen Leute sind so durstig nach der Praxis und verstehen, dass sie diese nur in einer praktischen landwirtschafltichen Ausbildung, wie wir sie anbieten, erlernen können. Natürlich sind Bücher wichtig, ich lese ständig etwas nach und bilde mich weiter, aber letztendlich würde ich jeder Person, die ein Leben als Bäuerin oder Selbstversorgerin anstrebt, empfehlen, ein paar Jahre auf einem bäuerlichen Betrieb mitzuarbeiten, um die tausenden Handgriffe zu erlernen, die in der täglichen Arbeit einfach sitzen und schnell gehen müssen.”
Ulli Klein

CSA-Bäuerin, www.kleinefarm.org

Weitere Infos

Zum Weiterlesen:

Andrea Heistinger, Arche Noah: Basiswissen Selbstversorgung aus Biogärten
Individuelle und gemeinschaftliche Wege und Möglichkeiten

Löwenzahn Verlag
, 472 Seiten / € 39,90

Bestellung (Portofrei mit Rechnung)

Andrea Heistinger arbeitet als systemische Strategie- und Umsetzungsberaterin. Für Unternehmen, Organisationen und Gemeinden. In Wandlungs-, Wachstums- und Fokussierungsprozessen. Sie ist Expertin für Bio-Landbau und regionale Wertschöpfung. Ihre Mission ist es, die soziale und ökologische Transformation der Lebensmittelversorgung aktiv mitzugestalten. Mehr auf der Website von Andrea Heistinger.