Almwirtschaft im Wandel: Geschichte, Bedeutung und Perspektiven

 

Das sich ankündigende Frühjahr kitzelt in der Nase, und in Bauernstuben, wohnlichen Bauwägen und Stadtwohnungen spüren viele Sennerinnen und Hirten wieder den Drang aufzubrechen, um den Sommer zwischen Himmel und Weiden, Vieh und Melkeimer, Küche und Käsekessel, Almrosen und Latschen zu verbringen. Ein bisschen dauert es noch, bis die Almsaison beginnt: Die perfekte Zeit, um einige Fragen, Praktisches und Spannendes zu erkunden.

Das strahlend saubere Melkzeug wartet auf seinen Einsatz im Sommer © Judith Stingl

Das strahlend saubere Melkzeug wartet auf seinen Einsatz im Sommer © Judith Stingl

 

Komm, ich erzähl dir eine Geschichte

Die Geschichte der Almwirtschaft ist lang, bereits im 5. Jahrtausend vor Christus wurden Weideflächen oberhalb der Baumgrenze in den Alpen genutzt, wie Forschungen zeigen. In der Bronze- und Eisenzeit boten sich diese Flächen für Viehhaltung an, viele Täler waren noch versumpft oder dicht bewaldet und wurden erst später nutzbar gemacht. Es folgten Phasen der Rodung, zuerst hauptsächlich, um Salz- und Erzbergwerke zu errichten, später um gezielt Weideflächen zu gewinnen. Vom 14. bis 16. Jahrhundert erlebte die Almwirtschaft eine Blütezeit: Es wurden Kühe aufgetrieben, gemolken und Käse produziert. Mit dem Ausbau der Eisenindustrie erfuhr der Wald im 19. Jahrhundert eine neue Wertschätzung, und neue Waldordnungen schränkten die Weidewirtschaft ein. Diese Entwicklung brachte den Bergbauernstand in eine missliche Lage, und um seiner Existenzbedrohung entgegenzuwirken, wurden ab Ende des 19. Jhd. Gesetze erlassen, um die Almwirtschaft wieder zu fördern und zu verbessern. In den 1960ern und 1970ern folgte nach einem zwischenzeitlichen Hoch wieder ein Tief, bedingt durch den Strukturwandel nach dem 2. Weltkrieg. Ein Mangel an Landarbeitskräften machte die Arbeit teuer. Zudem ließ sich die traditionelle Almarbeit nur schwer mit dem Fortschrittsdenken der Zeit vereinbaren. Ab den 80er Jahren ging es aber dank Förderungen und verstärktem Interesse der Bauern und Bäuerinnen wieder bergauf. Heute hat die Almwirtschaft einen hohen Stellenwert, nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch für den Tourismus. (Eibl & Kremer, 2009, S. 7f)

Glückliche Kühe mit bester Aussicht © Judith Stingl

 

Almen, Multitalente der Berglandschaft

Almlandschaften sind fester Bestandteil unserer Kulturlandschaft, und das ist gut so. Ihre Pflege und Erhaltung ist wichtig, um von vielen Vorteilen für Mensch und Umwelt zu profitieren.
Sehr naheliegend ist der ökonomische Aspekt: Durch tierische Erzeugnisse, wie Milch(produkte) und Fleisch, und deren Vermarktung, sowie durch die Nutzung von Forst und Jagd kann Einkommen erzielt werden, und somit können insbesondere kleine Bergbauernbetriebe erhalten werden. Die Bewirtschaftung der Almflächen auf diese Weise ist Voraussetzung für weitere Nutzen, beispielsweise ökologischer oder schützender Natur. Aus ökonomischer Sicht profitieren allerdings nicht nur Landwirt:innen, sondern vor allem auch der Tourismus, ein wechselspieliges Verhältnis. Almwirtschaft lockt Touristen in Bergregionen, diese wiederum sind durch Direktvermarktung, Urlaub am Bauernhof etc. eine wichtige zusätzliche Einkommensquelle für Bauern und Bäuerinnen. (Kirner & Wendtner, 2012, S. 15ff.)

Unbedingt genannt sei an dieser Stelle auch der enorme ökologische Wert von Almflächen. Die Biodiversität in Flora und Fauna ist einzigartig und würde unter einer Aufgabe der Bewirtschaftung (die eine Verbuschung/Verwaldung nach sich ziehen würde) stark leiden. Blumenreiche Magerwiesen, Felsfluren, Moore und verschieden “fette” Weiden sind Lebensraum für unzählige Lebewesen – bis über 100 Pflanzen- und mehr als 1000 Insektenarten je nach Flächentyp! Kräuter, Gräser, Heilpflanzen, Orchideen, Sukkulenten und Blumen sprießen in einer einzigartigen Vielfalt. Es tummeln sich Wildbienen (mancherorts auch Honigbienen, auch die können gealpt werden), Wespen, Schmetterlinge, Käfer, Salamander, Frösche und Molche. (Sulzer & Hösli, Handbuch Alp S. 61f.)

Nicht ganz so bekannt ist, welche wichtigen Schutzfunktionen Almlandschaften außerdem erfüllen. Ein Auflassen der Bewirtschaftung zöge ein erhöhtes Risiko von Lawinen, Muren, Erosionen und Hochwasser nach sich. Gut gepflegte Flächen haben ein höheres Wasserspeichervermögen (Erosions- und Ressourcenschutz) und auf kurz abgefressenem Gras kommen im Winter Schneedecken nicht so leicht ins Rutschen wie auf langem Gras – Lawinen entstehen schwerer. Somit leistet die Almwirtschaft auch einen wichtigen Beitrag zur Katastrophenprävention im alpinen Raum.

Ebenso erwähnt werden soll, was für ein umfangreiches soziokulturelles Erbe in der Bewirtschaftung der Almen liegt. Bräuche und Traditionen haben auf der Alm ihren Ursprung und ihre Heimat, lokale Besonderheiten werden zum Ausdruck gebracht, es gibt eine Vielzahl an Geschichten und Musik, die Sömmerungsstätten sind identitätsstiftende Orte.

(Kirner & Wendtner, 2012, S. 15ff.)

Zusammengefasst ist die lokal angepasste Haltung von Wiederkäuern im österreichischen Berggebiet wichtig für die Ernährungssouveränität. Die Weidewirtschaft spielt durch den wachstumsanregenden Biss, den bodenlockernden Tritt sowie der natürlichen Düngung durch die Tiere eine entscheidende Rolle für die Vielfalt in Flora und Fauna und CO2-Speicherung.

Almwirtschaft ermöglicht die Nutzung schwer zugänglicher Ressourcen (abgelegene Weideflächen) und fördert dabei auch noch Landschaftsschutz und Biodiversität. © Judith Stingl

 

Wen es also hinauszieht, hoch auf den Berg, um einen Sommer auf der Alm zu verbringen, leistet einen wichtigen Beitrag. Besonders für “Ersttäter*innen” gilt es vorher einige Überlegungen anzustellen:

  • Wie lange habe ich Zeit, den ganzen Sommer oder nur ein paar Wochen?
  • Möchte ich die Alm allein bestreiten, oder würde ich mich über ein Team freuen?
  • Welche Vorkenntnisse bringe ich mit, und welche muss ich vor dem Viehauftrieb unbedingt noch erwerben?
  • Ist eine Alm mit Gastwirtschaft eine Option oder reicht die Gesellschaft von Rindern, Ziegen, Schafen oder Schweinen?
  • Wie kann das finanziell klappen, deckt der Alplohn die im Sommer eventuell  leer stehende Wohnung? Oder kann es gar eine unbezahlte Hilfsstelle werden?
  • Gibt meine körperliche Verfassung überhaupt einen Almsommer her? Welches Training ist sinnvoll?  Die Arbeit ist anstrengend und der Alltag weit weg von der Almromantik auf Postkarten.

Diese Fragen (und mehr) gibt es zu klären, bevor es losgehen kann. Die gute Nachricht: Es gibt viele Anlaufstellen und Informationsmöglichkeiten, siehe seitlich.

 

Lesetipps

Spannende Lektüre versüßt kalte, trübe Tage und lädt im tristen Winter zum Träumen ein. Hier sind einige Empfehlungen für alle, die von der Alm träumen wollen.

Neues Handbuch Alp
Über 50 Autor:innen und Fotograf:innen haben zusammen eine Bibel für Praktiker erschaffen. “Handfestes für Alpleute, Erstaunliches für Zaungäste” kündigt das Buchcover an, und das trifft es auf den Punkt. Es gibt Beiträge zu Weidemanagement, Knoten, Tiergesundheit, Milchqualität, Teamstreitigkeiten, Musik, klassische Almrezepte und so viel mehr. Mir ist das Buch (im ersten Sommer bei meinem Hirtenkollegen gesehen und gleich nachgekauft) nun schon lange ein treuer Begleiter. Während eines Almsommers beantwortet es Fragen, in kalten Wintermonaten nährt es Erinnerung und Sehnsucht.

Zu erwerben beim zAlp Verlag (hier). Vom gleichen Verlag erscheint einmal jährlich eine Zeitschrift speziell für Älpler:innen, auch sie sei wärmstens empfohlen. Bestellen und/oder alte Ausgaben im Archiv lesen kann man hier.

Die Weite fühlen Pia Solèr

In diesem kleinen, feinen Buch berichtet die langjährige Hirtin Pia Solèr aus ihrem Alltag auf der Alm. Unaufgeregt und stimmungsvoll kommt es daher, ganz einfach und trotzdem schafft es zu verzaubern. Zum Eintauchen in eine ganz andere Welt; Obwohl geografisch nicht weit weg (die Autorin stammt aus und lebt in Graubünden), dürfte das Beschriebene für viele doch unvorstellbar sein.

Traum Alp: Älplerinnen im Porträt Daniela Schwegler und Vanessa Püntener

Dieses Buch stellt 15 Frauen und “ihre” Almen vor, zeigt einen bunten Querschnitt durch das weibliche Personal auf schweizer Almen. Jeweils mit Wandervorschlag und Rezept lädt die Lektüre ein, selbst aktiv zu werden. Wunderbar geeignet um herauszufinden, was in anderen Köpfen so vorgeht.

Frische Almbutter – kurze Zeit nach dem Almaufzug bekommt sie eine satte gelbe Farbe von den frischen Almkräutern und -blumen. © Judith Stingl

 

Fazit

Die Almwirtschaft ist ein besonderer und wichtiger Teil der Landwirtschaft, der Biodiversität und des kulturellen Erbes – nicht nur in Österreich, sondern im gesamten Alpenraum. Für viele ist ein Sommer oben am Berg ein (lang gehegter) Traum, für manche bleibt es ein Leben lang dabei. Ein guter Zeitpunkt, Dinge anzupacken,  ist meiner Erfahrung nach JETZT. Also auf zu den Stellenbörsen und Alpmeistergesprächen, Personal ist gesucht! Ich lege interessierten Freund:innen und Bekannten ans Herz, sich gut vorzubereiten, sich auf physische und psychische Herausforderungen gefasst zu machen und die Nase in entsprechende Bücher zu stecken (Neues Handbuch Alp!!). Eine Garantie für einen erfolgreichen Sommer gibt es nicht, Streits im Team, abgestürzte Tiere und wegzuschüttende Milch können selbst den ruhigsten Charakteren die Stimmung vermiesen. Aber wenn es geschafft ist, die Tiere wieder sicher im Tal sind und der Käse aufgeteilt ist, macht das unglaublich stolz. Ein Abenteuer, das seinesgleichen sucht, ist ein Almsommer allemal. Eine Möglichkeit, sich selbst kennenzulernen (man kann eh nicht aus), Widrigkeiten zu trotzen, und zwischen Schlafentzug und schmerzenden Körperteilen das Durchhaltevermögen zu trainieren. Welch ein Hochgefühl, wenn das gelingt!

Aber Vorsicht: Suchtgefahr 😀

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Der Anschnitt des ersten Käses (frühestens einen Monat nach dem ersten käsen auf der Alm) ist ein besonderer Moment. © Judith Stingl

 

Weitere Infos

Judith Stingl hat es nach der Matura das erste Mal auf die Alm verschlagen, wo sie sich in die Natur, Tiere und Landwirtschaft verliebt hat. Insgesamt hat sie 4 Sommer auf Almen in Südtirol und der Schweiz gearbeitet, im Winter war sie reisen oder hat auf Bauernhöfen gearbeitet. Mittlerweile studiert sie Agrarbildung- und Beratung in Wien und träumt nach ein paar Sommern Pause von ihrer nächsten Alm.

Foto: © Judith Stingl

Nützliche Links und Anlaufstellen:

  • Einen kleinen Beitrag und viele weitere Links zur Orientierung findet man auf unsere-almen.at.
  • Vielseitige Infos zum Thema Alm und eine Stellenbörse für Österreich finden sich auf almwirtschaft.com.
  • Eine ebenfalls sehr umfangreiche Sammlung an allen möglichen Infos findet sich auf zAlp.ch. Dort gibt es auch eine erweiterte Almstellenbörse mit Angeboten in der Schweiz, Südtirol und Österreich. (Über diese Website habe ich mich vor meinem ersten Sommer in der Welt der Älpler:innen orientiert – sie sei jedem wärmstens ans Herz gelegt!)
  • Wer zur Vorbereitung einen Hirten- oder Sennkurs absolvieren möchte, findet im Bildungsprogramm Almwirtschaft des LFI passende Angebote.
  • Alpinus ist ein junger Verein, der mit kreativen Ansätzen Alm- und Grünlandwirtschaft neu denken will. Die Website ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags noch in Arbeit, aber die Instagram Seite ist aktiv.